Studium und Beruf: Ist mein Kind fit für die Berufs- und Studienwahl?

Ist mein Kind fit für die Berufs- und Studienwahl?

Schlüpfen wir einmal in die Rolle eines Jugendlichen:

Die Schulcurricula haben 12 oder 13 Jahre vorgegeben, was gelernt werden musste.

Kindergarten, Grundschule und die 8 oder 9 Jahre Gymnasium haben dann mehr oder weniger linear auf das Ziel Abitur hingeführt.

Außer der Wahl der Schwerpunktfächer gab es wenig Wahlmöglichkeiten. Alles war strukturiert und verschult.

Abiturienten sind also keine geübten Entscheider.

Wie verlockend scheinen da im Internet frei zugängliche Berufswahl- oder Studienfindungstest. Nach wahlweise 1-3 Stunden kreuzen, rechnen und kombinieren, wird ein Studiengang ausgespuckt: der angeblich individuell Passendste. Die schwierige Entscheidungsfindungsphase mit einem Click vom Computer erledigt, wunderbar.

Aber leider funktioniert das nicht ganz so einfach:

Für die meisten Jugendlichen wird der Übergang von Schule in den Beruf als kritische Lebenssituationwahrgenommen.

 

Und wie können wir Eltern unterstützen?

 

  • Berufsrealitäten kennenlernen

„Das Wirtschaftspraktikum bei Onkel Dietmar – der stellt den Schein aus und gut ist.“ oder „Beim Steuerberater um die Ecke, da kann ich morgens länger schlafen – aber, außer Kaffeekochen und Zeitschriften lesen, nichts gewesen.“

Schülerpraktika sind umstritten, denn eigentlich sind 1-2 Wochen für Einblicke viel zu kurz und wenn als Folge außer ein paar Kopierarbeiten keine Erfahrungen gesammelt werden können, wirken die Praktikumsberufe auf die meisten Schüler eher abschreckend.

Deshalb sollten Sie hier unterstützen und viel Zeit und vielleicht auch Vitamin B auf die Auswahl des richtigen Platzes verwenden. Die meisten Schulen stellen sich nicht quer, wenn ihr Kind das Praktikum etwas verlängert, zumindest, wenn es an die Ferien grenzt. Und in 6 Wochen Sommerferien fallen doch sicherlich mal 2 Wochen Jobben ab….

 

  • Teilen von beruflichen Erfahrungen

Philipps Vater ist sich sicher: sein Sohn kann sich frei entscheiden: Studium oder Ausbildung? Auch inhaltlich ist er ganz offen, so meint er. Über kreative und soziale Berufe witzelt er allerdings ständig: zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel etc. Dass Phillip weder Sozialarbeit noch Grafikdesign studiert, liegt auf der Hand.

Das Beispiel zeigt, wieviel Einfluss Eltern direkt oder indirekt auf den Entscheidungsprozess nehmen können. Und tatsächlich ist es auch gut und wichtig, dass Sie Ihr Kind an Ihren Einstellungen und Erfahrungen partizipieren lassen.

Aber:

Führen Sie die Diskussionen direkt und sachlich. Geben Sie Ihrem Kind die Chance, sich daran zu reiben und eine Gegenposition einzunehmen. Außerdem verdient ein talentierter und leidenschaftlicher Grafikdesigner später sicherlich mehr als ein am Studium gescheiterter Jurist. Von der beruflichen Zufriedenheit ganz zu schweigen….

 

  • Gemeinsam in die Zukunft blicken

Nachrichten schauen, Zukunftsprognosen besprechen, Bücher lesen: gehen Sie mit Ihrem Kind in Diskussionen über gesamtgesellschaftliche und ökonomischen Veränderungen und den Arbeitsmarkt der Zukunft.

 

  • Interessen aufdecken

Befragt man einen Schüler zu seinen Interessen, wird man nur einen Bruchteil von dem herausbekommen, was ein wissenschaftlicher Interessenstest aufdecken kann.

Die meisten guten Interessenstests beruhen auf der sogenannten Holland Codes – Theorie. Sie besagt, dass Personen grundsätzlich mithilfe der folgenden sechs Typen charakterisierbar sind:

– handwerklich-technisch (realistic – Code R)

– untersuchend-forschend (investigative – Code I)

– künstlerisch-kreativ (artistic – Code A)

– erziehend-pflegend (social – Code S)

– führend-verkaufend (enterprising – Code E)

– ordnend-verwaltend (conventional – Code C)

Ein schneller und effektiver Test ist z.B. der Studium-Interessenstest SIT von Hochschulkompass.

Er ist kostenlos und dauert 15 Minuten. Es werden 72 Fragen beantwortet, vorher muss man sich per Email registrieren. Die Teilnehmenden erhalten ein Interessensprofil mit passenden Studienprofilen und ein Teilnehmerzertifikat.

Achtung: das Ergebnis liefert sicherlich interessante Impulse, eine Studienempfehlung alleinauf Interessensbasis ist allerdings nicht tragfähig.

 

  • Kompetenzen aufspüren

Es gibt Fähigkeiten, die kann man entwickeln und aufbauen und andere, auf die kann man nur begrenzt Einfluss nehmen. Zu letzteren zählen z.B. analytische Fähigkeiten, schlussfolgerndes Denken, räumliches Vorstellungsvermögen oder Kontaktstärke und Extraversion.

Beruf und Studium machen besonders viel Spaß, wenn die geforderten Kompetenzen mit den eigenen Fähigkeiten korrespondieren.

Daher ist es wichtig, unabhängig von den Interessen, auch die individuelle Leistungsfähigkeit aufzudecken. Das können Sie unterstützen durch:

 

  • Berufs- und Studienwahltests, die nicht nur Interessen fokussieren, sondern auch einen kognitiven Leistungstest und Fragen zur Einschätzung der eigenen Fähigkeiten beinhalten.

 

  • Auch Zeugnisse sagen etwas aus, wenn man sie mal anders analysiert. Gemeinsam mit Ihrem Kinde bewerten Sie die Leistungsfähigkeit Ihres Kindes in Bezug auf die verschiedenen Fächer. Dabei überlegen Sie, welche Noten Ihr Kind bei gleichem Lerneinsatz und gleichguten Lehrern in allen Fächern hätte bekommen können. Wichtig: der Notenschnitt sollte der gleiche bleiben.

 

  • Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung sind oftmals nicht deckungsgleich. Gehen Sie mit Ihrem Kind aber auch mit Freunden und Verwandten in den Austausch und arbeiten sie gemeinsam die Stärken heraus.

 

Online-Testssind lediglich als ergänzende Diskussionsgrundlagesinnvoll. Häufig werden sie leider von Schülern falsch interpretiert. Außerdem ist oft nicht nachvollziehbar, wie der Test zu speziellen Empfehlungen kommt oder auch nicht kommt.

Anna z.B. nahm an einem sehr renommierten Online-Test teil. Aufgrund einer 3 in Physik – der Lehrer war eine Katastrophe – und ihrer nur durchschnittlichen Performance im räumlichen und schlussfolgernden Denken ergab sich keine Empfehlung für ein Medizinstudium, das sie schon seit der 6. Klasse anstrebte. Anna hatte den Test nur zur Bestätigung ihres Wunsches absolviert und war total frustriert. In einem anschließenden Beratungsgespräch haben wir Ihr dann die Zusammenhänge dargelegt. Anna hat ihre naturwissenschaftlichen Defizite ernstgenommen, daran gearbeitet und studiert nun im 6. Semester erfolgreich Medizin an der TU Dresden.

Wichtig ist also, dass Sie als Eltern Interpretationshilfeleisten oder sich von dazu ausgebildeten Studien- und Berufsberatern unterstützen lassen.

 

Was sagt die Wissenschaft?

 

Die Berufs- und Studienwahl ist entgegen des oben skizzierten „Studienfindungsclicks“ keine plötzliche Entscheidung, sondern Ergebnis eines Prozesses. In der Entwicklungspsychologie weist man diesem Prozess der berufsbezogenen Explorationsphase die Zeit zwischen dem 14. und 24. Lebensjahr zu. In dieser Phase sammeln Jugendliche Informationen über sich selbst und verschiedene Berufsbilder, um sich der gesellschaftlichen Erwartung, eine berufliche Identität zu entfalten und einen Beruf zu wählen, anzupassen.

 

In der öffentlichen Diskussion wird in diesem Kontext häufig auf die Berufswahlreife Jugendlicher verwiesen. Da sich diese nicht automatisch, in Anlehnung an die altersgebundene Reifung, entwickelt, wird in der Wissenschaft zunehmend von Berufswahlbereitschaft gesprochen, die sich aktiv erarbeitet werden muss.

 

Wann hat mein Kind eine profunde Berufswahlbereitschaft und was beeinflusst diese Reifung?

Ein Jugendlicher mit erarbeiteter Berufswahlbereitschaft hat eine konkrete Zukunftsperspektive entwickelt, sich mit dem Arbeitsmarkt beschäftigt und Klarheit über seine berufliche Identität gefunden.

Der Entwicklungspsychologe James E. Marcia unterscheidet drei verschiedene Identitätstypen, die nicht automatisch nacheinander ablaufen, sondern immer wieder auftreten und durchlaufen werden können.

Zum einen gibt es den Zustand der übernommenen Identität, bei dem eine klare innere Verpflichtung vorherrscht, die sich an Werten der Eltern oder anderer Autoritäten orientiert und nicht kritisch überprüft wird. Die Berufswahl fällt Schülern dieses Typus leicht. Ohne sich mit den Bausteinen der eigenen Persönlichkeit auseinandergesetzt zu haben, kopieren sie berufliche Entscheidungen der relevanten Bezugsperson. Die Gefahr kann hier darin bestehen, dass die Anforderungen der Ausbildung und des späteren Berufes nicht zum Können und Wollen des Schülers passen. Vielleicht gelingt aber schon die Bewerbung nicht, weil im Bewerbungsprozess ein höherer Grad an Klarheit über die Frage nach dem Selbst notwendig ist.

Eine diffuse Identitätgeht mit Desorientierung und Entscheidungsschwierigkeiten einher. Hier zeigt sich nur wenig ernsthaftes und eigenaktives Interesse, sich mit berufsrelevanten Themen auseinanderzusetzen. Demzufolge sind Schüler in diesem Status nicht in der Lage, Entscheidungsalternativen zu bewerten. Grund für diese Unlust kann Selbstschutz sein oder die Angst, sich bei Entscheidungen aller anderen beruflichen Alternativen zu berauben. Dann erscheint es wichtig, mit den Schülern die Ängste aufzudecken: mit einer Studienentscheidung legt man sich nicht zwangsläufig lebenslang auf einen bestimmten Beruf fest! Vielmehr ist davon auszugehen, dass Angehörige der Generation Y und Z im Verlauf Ihres Arbeitslebens durchschnittlich ca. zehnmal Arbeitgeber oder Funktion (Quelle: StepStone Studie 2014) wechseln werden.

In jedem Fall sollte bei einer noch diffusen Identität keine kurzfristige laufbahnbestimmende Entscheidung getroffen werden.

Die Entwicklung einer beruflichen Identitätgeht nur über den Prozess der Selbstfindung. In Abgrenzung zur Gesellschaft und anderen Einflüssen werden die verschiedenen Bausteine der Persönlichkeit wie Interessen, Fähigkeiten, Motive, Zukunftswünsche und berufliche Ziele reflektiert. Dazu braucht es Informationen, Erfahrungen aber auch unterschiedliche Stellungnahmen, Überzeugungen und Lebensentwürfe, an denen man sich reiben kann. Eine Person mit erarbeiteter beruflicher Identität ist der Frage nach dem „Wer bin ich?“ und „Was will ich?“ auf der Spur. Durch diese innere Klarheit fällt es sehr viel leichter, den individuell passenden Beruf zu finden, der motiviert, Spaß macht und leichtfällt und damit zu beruflicher Zufriedenheit führt.

 

 

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